Weltuntergang vor der Haustür

13. September 2020

Der Weltuntergang vor der Haustür

Jeder halbwegs aufmerksame Zeitgenosse weiß, dass die Menschheit apokalyptischen Bedrohungen entgegensieht. Schon tragisch: genau jene aufklärerisch-wissenschaftliche Geisteshaltung, mit der wir den von Göttern und Dämonen gegen uns verhängten Weltuntergang ins Reich der Legenden verbannen konnten, hat uns im Laufe der vergangenen 200 Jahre die Werkzeuge in die Hand gegeben, den Weltuntergang selbst zu organisieren. Während unverbesserliche Leugner den Anstieg der Weltmeere um einige Zentimeter bestreiten, versucht die Wissenschaft den Anstieg um mehr oder weniger viele Meter einzuschätzen. Während wir um einige tausend, einige hundert oder einige dutzend Flüchtlinge streiten, schwinden andernorts die Lebensgrundlagen für hunderte Millionen Menschen. Wir ahnen, dass viele unserer gut gemeinten Entscheidungen nicht genügen. Die Heizung ein wenig zurückdrehen, irgendeine Reise mit dem ICE statt mit dem Auto unternehmen, auf die coronabedingt ohnehin unmögliche Flugreise tatsächlich verzichten, das Steak irgendwann mal vom Bio-Metzger … vielleicht ist das doch alles zu wenig. Niemand weiß, ob wir nicht Schwellen zur Unbewohnbarkeit des Planeten bereits ohne Wiederkehr überschritten haben.

Aber die Sonne scheint, die Blumen blühen, den Jahrhundertsommer fangen wir im Biergarten und den Jahrhundertwinter in der Kaminstube ab. Wird schon alles nicht so schlimm werden …

Und dann bricht in unsere kleine heile Welt die große Katastrophe herein. „Die“ bauen doch glatt einen Edeka. „Die“ planen doch tatsächlich für Puchheim eine geothermische Anlage. „Die“ wollen doch tatsächlich durch den Englischen Garten die Trambahn bauen. „Die“ erweitern die Schule an der Parkstraße. „Die“ wollen einen Bus durch die Allinger Straße fahren lassen.

Und nun sind sie alle da, die Bürgerinnen und die Bürger, die Juristen und Betriebswirte und die Lehrer, die Denkmalschützer und die Umweltschützer, die angeblichen Vertreter der schweigenden Senioren und die angeblichen Interessenwahrer der Kinder. Was wird nicht alles argumentativ aufgefahren! Welche Fahrzeugkolonnen werden halb Eichenau rund um den neuen Edeka überschwemmen, während die Zerstörung der kleinteiligen Einkaufsstruktur die andere Hälfte des Ortes in schwere Versorgungskrisen stürzen wird. Die Kolonnen schwerer Sattelschlepper zur sogenannten „Großküche“ in der Parkstraße werden unsere Kinder schwerstens gefährden. Die Geothermie wird für sicherlich 5 von 5000 Häusern in Puchheim das Risiko von Rissen in den Kellerwänden heraufbeschwören. Und mit dem Maßband wird nachgewiesen, dass in der Allinger Straße die Begegnung zweier Busse nicht genau neben Kinderwagen, Rollstuhl oder Radler stattfinden kann. Das Gespenst des Ausweichens im Straßenverkehr zeigt seine schaurige Fratze!

Ja, und da haben wir ihn nun, den wollüstig zelebrierten kleinen Weltuntergang. Irgendwie immer mal komisch: wo eigentlich waren die nun so zornesroten und wortgewaltigen und wohlberatenen Mitbürgerinnen und Mitbürger mit all ihren erstaunlichen Zeitreserven eigentlich früher? Gegen Raketennachrüstung oder Gentechnik, gegen Irakkrieg oder fragwürdige Auslandseinsätze der Bundeswehr, gegen wachsenden Rechtsradikalismus und gegen fremdenfeindliche Gewalt hat man scheinbar nichts gehabt. Diese Themen hat man gerne jahrzehntelang den naiven Gutmenschen überlassen, die sich in ihrer Freizeit um sowas kümmern wollen. Wie schön wäre es eigentlich, wenn in einem Ort von 12.000 Einwohnern wie Eichenau nicht wie gegenwärtig 30 oder 40 Leute sondern 300 oder 400 Mitbürgerinnen und Mitbürger jeden Alters öffentlich und systematisch politische, historische und ökologische Verantwortung zeigen würden. Aber die Logik ist klar: die Welt des kleinen Weltuntergangs beginnt 50 m vor der Haustür und endet radikal 50 m hinter der Terrasse.

Indessen handeln die jeweiligen Landräte, Kommunalparlamente, Bürgermeister und Rathausverwaltungen bei ihren Genehmigungen und Investitionen nicht zum Spaß. Das Gesetz, die Wählermehrheiten, die Medien und die Wirtschaft fordern neue Verkehrswege, bessere Schulen, neue Wohnviertel, attraktivere Einkaufsmöglichkeiten, eine lückenlose medizinische Versorgung und Freizeitangebote für jung und als. All die genannten Organe müssen Abwägungen zwischen den überwiegenden Interessen der Gesellschaft und dem privaten Abwehrwunsch treffen. Das Lächeln über die Wutbürger erstirbt, wenn man sie bei der Delegitimierung der Demokratie Seite an Seite mit rechtsradikalen Corona-Leugnern und „Merkel-Kritikern“ beobachtet. Wer sich anno 2020 als „besorgten Bürger“ bezeichnet, muss schon ein erstaunlich geringes politisches Kurzzeitgedächtnis zur Düsternis dieses Etiketts haben. Befremdlich auch die wiederkehrende Forderung nach Einberufung eines „Entscheidungsgremiums“! Solche Entscheidungsgremien haben wir schon! Sie heißen Kreistag und Gemeinderat.

Und was nun die Zelebrierung des kleinen Weltuntergangs betrifft, so wird zwar – zuletzt bei der Info-Veranstaltung in der Budrio-Halle am 9. September 2020 – der Luftballon der Argumente mit immer weiterer Füllung zwar immer größer, jedoch auch immer anfälliger gegen die kleine Stecknadel des sachlichen Betrachtung. Die kleine und die große Welt haben ja einen Supermarkt, eine neue Trambahnlinie, eine Schulküche oder eine Buslinie in einer schmalen Straße schon ganz gut überlebt. Und wenn die erwähnte Stecknadel dann zum Einsatz gekommen ist, dann liegt der schöne argumentative Ballon recht kümmerlich in der Landschaft, und übrig bleibt nur der ganz schlichte Satz: „Liebe Politiker, baut und genehmigt und organisiert alles, was ihr wollt und alles, was ihr für nötig haltet, aber nicht in Sichtweite meines Balkons und meines Gartens!“ Noch kürzer: „Es geht auf dieser Welt bitte nur um mich!“

Andreas Knipping

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