Wahlkampf mal ehrlich?

16. Juli 2021

von Andreas Knipping

Jetzt ist wieder die Zeit des großen Überdrusses an Wahlprogrammen und Wahlaussagen gekommen. Jede Partei wird angeblich in Regierungsverantwortung innerhalb der kommenden vier Jahre jedes Problem lösen.

Bei manchen ist allerdings komisch, dass sie es in langjähriger Regierungsverantwortung nicht längst getan haben). Mit Offensiven und Initiativen, mit Pakt und Paket. Und selbstverständlich mit ganz viel Mut und Entschlossenheit und Zieltreue und Verantwortungsbewusstsein werden wir Zukunft und Sicherheit, digitales Zeitalter und sozialen Zusammenhalt, Bildungschancen und würdiges Alter und Energiewende und Verkehrswende meistern. Wir werden niemanden zurücklassen, weder die Jungen noch die Alten, weder den Osten noch die fernen Kontinente, weder die Beschäftigten noch die Unternehmer. Und dann kommen unverzichtbar die vielen Worte, die ich längst hassen gelernt habe:
- Die Stellschrauben
- Der Prüfstand
- Der Kassensturz
- Die Digitalisierung
- Die Entbürokratisierung
- Die Bürgernähe
- Die Gemeinsamkeit
- Wachstum
- Wachstum
- Wachstum

Welche Aussage einer recht kleinen Partei ist atemberaubender? Ihre Diagnose, dass gleich mal ganz Deutschland einen „Neustart“ braucht“, oder ihr Versprechen, diesen zu schaffen? Hat unser Land seit Roman Herzogs „Ruckrede“ von 1998 leider doch gar nichts gemacht?

Braucht man wirklich Expertise aus Geistes- und Gesellschaftswissenschaft, um zu erkennen, warum uns das eigentlich verspottet? Jede und jeder in Wählerschaft, Politik, Medien und Hochschulen weiß ganz genau, dass wir auch in 4 oder 8 oder 12 Jahren Altersarmut, unbezahlbare Mieten, problematische Aspekte der Migration, unbefriedigende Zustände in der Pflege, Defizite im Schulwesen, Nachholbedarf im Schienenverkehr und extreme Ungerechtigkeiten in der Einkommens- und Vermögensverteilung haben werden. Wir werden den Konflikt zwischen Landwirtschaft und Ökologie nicht gelöst haben. Wir werden noch drängender als heute über die Finanzierung der Renten- und der Krankenversicherung reden müssen. Und Kanzlerin/Kanzler und jede Ministerin und jeder Minister wird weiterhin nur hoffen können, dass sich Naturkatastrophen, Pandemien, Cyber-Angriffe, Wetterextreme und kriegerische Zuspitzungen an vielen Orten der Welt noch in irgendwie beherrschbaren Grenzen halten werden. Wir werden weiterhin viel mehr reagieren als regieren.

Ich bin nun wirklich alt genug, um mir seit Jahrzehnten von allen Parteien einschließlich der eigenen einmal folgende Aussage zu wünschen:

Liebe Wählerschaft, wir stehen vor riesigen Problemen und können keine Wunder versprechen. Manche Gefahren und Sorgen werden in ein paar Jahren noch größer sein als jetzt, neue werden dazukommen. Wir haben aber in anstrengenden Beratungen und mit wissenschaftlicher Beratung und mit der Kompetenz aus all unseren Fraktionen in Bund, Land und Kommunen einige Vorschläge entwickelt, die nicht jedem gefallen werden, mit denen wir aber auf einigen Feldern konkrete Verbesserungen schaffen könnten. Und im Rückblick auf unsere trotz aller Fehler jedenfalls nicht ganz verfehlte politische Praxis in der Vergangenheit bitten wir um Ihr Vertrauen!

Wäre dieses Stück Ehrlichkeit so schwierig?

Andreas Knipping

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