Wenige Tage nach Beginn der russischen Mordbrennerei in der Ukraine hörte ich im eigenen Ortsverein die Gesprächsfetzen:
- „Die USA sollen sich da raushalten! Europa schafft das allein!“ und
- „Der Ami hat aber doch auch im Irak …“
Gewagte Worte! Schafft Europa „das“, nämlich eine effektive Hilfe für die Ukraine, gemessen an seinem militärischen und diplomatischen Gewicht wirklich allein? Und warum auch? Sind die USA der schlechtere NATO-Partner? Und ja, der Irak! Wollten die USA da auch eine ganze Nation mit Methoden des Völkermords von der Landkarte und aus der Weltgeschichte tilgen? Und welches eigene tiefe Bedürfnis stillen wir eigentlich mit dem beständigen Hinweis, dass der eigene wichtigste Bündnispartner doch bitte unbedingt immer als genauso verdächtig erkannt werden müsse wie Russland?
Aber schon klar, die USA können es niemandem recht machen. Für die Sozialisten sind sie zu kapitalistisch. Für die Kapitalisten sind sie zu stark. Für die Rassisten haben sie zu viele Schwarze. Für den Antirassisten gehen sie mit den Schwarzen zu schlecht um. Der Vernünftige verzeiht nicht die Wahl von Donald Trump. Der Unvernünftige verzeiht nicht die Abwahl von Donald Trump. Und dann natürlich der große Einfluss der Juden. „Wird man ja noch sagen dürfen!“ Die rechtspopulistische/rechtsextreme Seite des politischen Spektrums und eine sich als links definierende Friedensbewegung einigen sich bruchlos auf das Feindbild „US-Imperialismus“ immer noch streng nach DDR-Lehrbuch. Äußerungen von Sahra Wagenknecht und Alice Weidel sind nicht unterscheidbar.
Karl Marx und Friedrich Engels blickten bei ihrer Analyse des Entstehungs- und Verwertungsprozesses des Kapitals auf Bergwerke und rauchende Schornsteine in Großbritannien, Belgien, Frankreich und Preußen, nicht aber auf die dünn besiedelten Ebenen und Gebirge der Nordamerikanischen Union (Die Abkürzung USA war in Deutschland kaum bekannt). Doch genau hier entwickelte sich der Kapitalismus besonders dynamisch, was nicht verwundern kann, gab es doch hier nicht die Beharrungskräfte des riesigen kirchlichen und adeligen Grundbesitzes und der Macht von Fürstenhäusern. Niemand glaubt, dass es den mit dem Bürgerkrieg von 1861 bis 1865 befreiten Schwarzen in der modernen Industrie gut gegangen sei. Und inzwischen ohne Cowboy-Romantik blicken wir auf Zurückdrängung und Massenmord an den indigenen Völkern Nordamerikas zurück. Aber bitte: Von welcher moralischen Überlegenheit aus will Europa vor dem Hintergrund von fünf Jahrhunderten spanischer, portugiesischer, niederländischer, belgischer, britischer, italienischer, russischer und deutscher Kolonialgeschichte die Amerikaner verurteilen? Der Sieg dynamischen Unternehmertums und ließ auch eine moderne Außenpolitik reifen. Mit riesigen Armeen ein Beuteland zu zerstören, zu besetzen und mit schierer Gewalt auszubeuten: Das war gestern. Nein, man kaufte oder gründete – zunächst vorrangig in Lateinamerika – Bergwerke, Häfen, Fabriken, Banken, Zeitungen und Parteien. Man beteiligte die Leute dort an Wohlstandsmehrung und Konsum. Und ja, man schloss Zweckbündnisse mit äußerst üblen Typen und Gruppen. Damit war der US-Imperialismus schon im 19. Jahrhundert erfolgreicher als der Imperialismus nach den Methoden Ludendorff und Hitler im 20. und Putin im 21. Jahrhundert, auch wenn er seine geheimdienstliche, korrupte und putschistische Schattenseite nie loswurde. Aber wiederum bitte: Mit welcher moralischen Überlegenheit wollen gerade die Deutschen vor dem Hintergrund ihrer beiden Weltkriege hier den historischen Richterspruch fällen?
Ja, unsere linken Ankläger gegen den US-Imperialismus und unsere rechten Ankläger gegen den jüdischen US-Imperialismus haben scharfsinnig erkannt, dass sich die USA auf der Spur ihres Sieges über Hitlerdeutschland eine Einflusssphäre in Europa geschaffen haben. Aber man erinnert sich vielleicht daran, dass die Sowjetunion auch keinerlei Neigung zeigte, ihre territoriale Beute aus der Zurückdrängung der Wehrmacht wieder aufzugeben. Man erinnert sich aber auch vielleicht an eine Unterschiedlichkeit in den Methoden und an eine unterschiedliche Akzeptanz in den entsprechenden Ländern. Während sich die Sowjetmacht in Litauen, Lettland, Estland, Polen, der Tschechoslowakei, Ungarn, Rumänien, der Ukraine und Bulgarien sowie im östlichen Deutschland nur im Wege der Enteignung, Mundtotmachung, Verschleppung, Aushungerung, Exilierung, Inhaftierung und oftmals buchstäblichen Liquidierung von Millionen Menschen durchsetzen konnte und sie ihren Machtbereich nur hinter Stacheldraht und mit Panzerarmeen halten konnten, hatten die USA dergleichen in Frankreich, den Niederlanden, Belgien, Dänemark, Großbritannien, Österreich, Italien oder im westlichen Deutschland nicht nötig. 1950 hatte man großes Glück, im ach so amerikanischen Einflussbereich zu leben und nicht in der Sowjetunion. 1930 war es nicht anders gewesen; und 1980 würde es nicht anders sein. Es gehört schon viel angestrengte Dialektik dazu, die Blockade Westberlins und die Luftbrücke hiergegen für gleich verwerflich zu erklären und das Blutbad in Ungarn 1956, den Mauerbau in Berlin 1961 und den Überfall auf die Tschechoslowakei 1968 zu verzeihlichen Reaktionen gegen die US-Expansion zu erklären, so wie ja auch Sahra Wagenknecht noch in der sechsten Woche nach Putins Überfall auf die Ukraine das Märchen von einer verständlichen Reaktion auf die böse US-Politik fortspinnt.
Als historisch bewusster Sozialdemokrat habe ich nicht den geringsten Grund, den politisch völlig verfehlten und verbrecherisch geführten Vietnamkrieg der USA gutzuheißen, den ebenso völlig verfehlten und in grausige Exzesse mündenden Angriffskrieg gegen den Irak 2003 zu vergessen oder über Waffenkult und Alltagsrassismus in den USA irgendeinen Schleier von Verständnis zu legen. Als Jurist konstatiere ich auch, dass die USA die Rechtsstaatskriterien für einen Eintritt in die Europäische Union nicht erfüllen würden. Erwähnt sei allerdings auch, dass all solche Verfehlungen in den USA thematisiert und diskutiert werden dürfen und verhandelt werden. Der Vietnamkrieg scheiterte nicht nur am Widerstand des vietnamesischen Volkes, sondern auch am Protest im eigenen Lande, der seither zu einer Säule der Nationalkultur geworden ist. Ja, die farbigen Bürgerinnen und Bürger werden in empörender Weise und mit einem schauerlichen Blutzoll diskriminiert. Zugleich ist aber auch ihre Kultur ein nicht wegzudenkendes Element amerikanischer Kultur. Weil ja immer die Bipolarität zwischen den USA und Russland hervorgehoben wird (gerade so als ob es mit Ägypten, Saudi-Arabien, Iran, der Türkei, dem Sudan, Indien, Pakistan, Myanmar oder China nicht noch andere und auch sehr problematisch agierende Mächte gäbe) darf bemerkt werden, dass es in Russland noch nie irgendeine breite Beschäftigung mit all jenen Gewaltorgien gab, die Zarentum, Oktoberrevolution, Bürgerkrieg, Lenins Diktatur, Stalins mörderischer Wahn und nun schon zwei Jahrzehnte Putin-Regime über eigenes und fremdes Land brachte. Es war kein Zufall, dass Moskau wenige Wochen vor seinem Angriff auf die Ukraine die Erforschung der stalinistischen Verbrechen verboten hat.
Warum nun also müssen die USA für so viele kluge Leute aus Stammtisch, Journalismus, Politik und Literatur Deutschlands unbedingt immer „die ganz Bösen“ sein? Der spezielle Grund in unserem kollektiven Gedächtnis wird nicht gerne genannt. Die Amerikaner waren es nun einmal, die „uns“ die beiden Weltkriege vermasselt haben. Wären die US-Truppen nicht 1918 in Frankreich an der Westfront erschienen, dann hätten „wir es im Westen geschafft“ – und dann wäre der Frieden von Brest-Litowsk in Kraft geblieben mit der Folge, dass die Ukraine ganz einfach seit 104 Jahren zum deutschen Machtbereich gehören würde und die Probleme des Jahres 2022 gar nicht aufgetreten wären. Und im Zweiten Weltkrieg kamen „die Amis“ auch schon wieder, und zwar nicht wegen ihrer stetigen Sucht zur Einmischung, sondern aufgrund von Hitlers Kriegserklärung vom 12. Dezember 1941 Sie kamen bis Kassel und Leipzig, bis Prag und bis München. Und bis Dachau. Wir leben in kaum 20 km Entfernung von dem Konzentrationslager, das die US-Soldaten am 29. April 1945 befreit haben. Ich habe nie verstanden, wie man vor dem Hintergrund allein schon dieser Erinnerung in ein geschichtsblindes „Ami go home“ einstimmen kann.
Andreas Knipping
April 2022