Wohl niemand von uns wird so schnell jenen Samstagabend 7. November 2020 vergessen, an dem der Welt die Hoffnung bestätigt wurde, dass die erwartbare Zahl von Wahlmännern für Joe Biden die magische Grenze von 270 überschritten hatte. Ich fühlte mich an jenes Wochenende im Mai 2019 erinnert, an dem H. C. Strache nach Veröffentlichung des Ibiza-Videos zurückgetreten war und das Ende des österreichischen Albtraums absehbar wurde.
Die USA und Österreich sind nicht miteinander vergleichbar, aber die Beobachtung des immer weiteren politischen Absturzes unseres so oft bereisten nächsten Nachbarlandes hatte mich im vergangenen Vierteljahrhundert doch sehr belastet. Österreich wurde und wird nach dem Niedergang der FPÖ kein demokratisches Paradies, aber der scheinbar unaufhaltsame Marsch in die autoritäre und korrupte Düsternis Polens, Ungarns und Russlands ist doch in Richtung einer Normalität des Regierens im europäischen Durchschnitt unterbrochen.
So wird der Machtübergang von Donald Trump zu Joe Biden ebenfalls nicht der Übergang von der Hölle ins Paradies sein, aber eben doch auch das Erwachen aus dem Albtraum hinein in eine sicherlich stets unvollkommene und anfechtbare aber doch verantwortliche Staatsführung nach allgemein gültigen Maßstäben. Eine Charakterisierung des scheidenden US-Präsidenten ist an dieser Stelle entbehrlich; wir kennen ihn gut genug. In der vergangenen Wochen hat er die ganze destruktive Charakterstruktur solcher Persönlichkeiten bestätigt. Man ist mit Recht besorgt, wenn ein Kleinkind das Spielzeug lieber zerstört als es dem Kameraden zu überlassen. Gespenstisch, wenn ein Mann am Schalthebel von Atomwaffen diesen Reifemangel zeigt.
Innenpolitisch genießen Trumps Auftreten und Politikonzept hier den erwartbaren Beifall hauptsächlich der AfD. Er habe „für sein Land viel getan“! Ja, mal eben mit unsolider Finanzierung und ohne jede ökologische Rücksichten mit kräftigen Schlucken aus den Pullen von Straßenbau, Verbrennungsmotor, Braunkohleförderung, Kohleverstromung, Rüstung und Luftverkehr eine kurzlebige Schaumkrone instabiler Arbeitsplätze zu schaffen und außerdem Polizei, Justiz und Strafvollzug zu Bürgerkriegstruppen gegen Minderheiten aller Art umzuwandeln, das wäre natürlich ganz nach ihrem Geschmack.
Extrem bedauerlich ist, dass Trump einem altbekannten Antiamerikanismus Stoff gegeben hat. Ich bin dagegen immunisiert durch Erzählungen meines Vaters, der nach zwei Weltkriegen – einmal als hungernder Junge von neun bis zwölf Jahren im Rheinland um 1920 und noch einmal als schwer kriegsbeschädigter hungernder Mann im zerbombten München ab 1945 – den US-amerikanischen Hilfsorganisationen buchstäblich für ein wenig Nahrung dankbar war. Ich lebe mit den Erzählungen meiner Eltern, denen die Arbeit für die amerikanische Besatzungsmacht in München ab Sommer 1945 ein unvergessliches Erlebnis von geistiger Freiheit, politischer Ernsthaftigkeit und kultureller Offenheit wurde. Freundschaften aus jener Zeit hielten für Jahrzehnte, so mit dem Diplomaten, der bei meinem Vater Deutschunterricht nahm und bei dem amüsiert zu beobachten war, dass er seinen Hund mit „Sie“ anredete. Ich lebe in einem von US-Truppen befreiten Ort. Und ich lebe 20 km entfernt vom einstigen Konzentrationslager Dachau und lebe mit dem Wissen, was die völlig unvorbereiteten amerikanischen Befreier dort in jenen Apriltagen 1945 vorfanden.
Heute schon verstaubt ist der Antiamerikanismus mit den Schablonen der 1920er bis 1970er Jahre. Wir lachen heute über die düsteren Besorgnisse gleichermaßen gegen Comics, Kaugummi, flott geschriebene politische Wochenmagazine, „Negermusik“ und – „man musste es ja wohl noch sagen dürfen“ jüdische Dominanz – als gesamtamerikanische Frontstellung gegen deutsche Innerlichkeit. Die DDR hatte keine Scheu, die Goebbels-Formulierung von den „angloamerikanischen“ Luftangriffen weiter zu pflegen. Klar: der Hitler-Krieg war böse, die Sowjetunion leistete die Befreiung, und die Amerikaner kamen aus imperialistischen Motiven nach Europa und bombardierten die Häuser der braven Antifaschisten. Bis in die „Friedensbewegung“ hinein – ich setze sie inzwischen in Anführungszeichen – ist Konsens, dass die USA sich ja überall und so auch im Zweiten Weltkrieg in Europa „einmischen“. Dass Hitler den USA im Dezember 1941 ausdrücklich den Krieg erklärt hatte, scheint da nicht so wichtig zu sein.
Und ja, die Banken an der amerikanischen Ostküste sind heute natürlich an Rüstung und Krieg in aller Welt hauptschuldig. Und so wie die lieben friedensbewegten Deutschen heute natürlich vorrangig berufen sind, dem Staat Israel den richtigen Umgang mit den Palästinensern beizubringen – wir kennen doch wohl am besten die Gefahren eines Holocaust – so werden wir „wohl auch noch sagen dürfen“, dass diese amerikanischen Banken und Medien und Internetkonzerne in jüdischer Hand sind. Da fällt dann der gute Ratschlag nicht schwer, Deutschland möge eine Position in etwa gleichem Abstand zu den USA und zu Putins Russland einnehmen. Bismarck hat es doch so schön (und das Nazireich hat es etwas weniger schön) vorgemacht, dass Preußen bzw. das Reich sich auf Kosten der paar Polen, Litauer, Letten, Esten und Weißrussen ohne unnötige Sentimentalitäten hervorragend einigen können.
Ich bleibe ein dankbarer Freund der USA und wünsche diesem großen Land von ganzem Herzen eine hellere Zukunft. Die ganze Welt braucht ein besseres Amerika.
Andreas Knipping