In den aufgeregten Wochen vor dem erwartbaren willkürlichen Angriff des Putin-Regimes auf die Ukraine hörte man gelegentlich, der Westen habe die Lehren aus der Entspannungspolitik der 1970er-Jahre vergessen oder vernachlässigt. Mit den Prinzipien von Willy Brandt und Helmut Schmidt hätte man die Zuspitzung der Krise verhindern können. Man müsse eben immer und immer weiter verhandeln, um einen Gewaltexzess zu verhindern.
Diese Botschaft verkennt und verwässert das Wesen der vor einem halben Jahrhundert zu ihrer Blütezeit gelangten Entspannungspolitik. Sie erschöpft sich nicht in der Mahnung, lieber zu verhandeln als zu schießen. Für diese Mahnung brauchte man keine sozialdemokratischen Kanzler. Wir beobachten im westlichen Kulturkreis seit langer Zeit die Abwendung von Gewalt zugunsten rationaler und verbaler Konfliktlösung. Dem Ärger in Familie und Schule wird heute nicht mehr mit der Prügelstrafe begegnet. Die Kontroverse in Dorfgemeinschaft oder jugendlicher Clique wird heute nicht mehr mit der Schlägerei entschieden. Und die demokratischen Staaten und Gesellschaften haben gelernt, dass wegen des Minderheitenstatus der Südtiroler, der Basken oder der Sorben oder wegen der Fischereirechte in der Nordsee kein Krieg geführt werden muss und darf.
Die Epoche der Blockpolitik
Die Entspannungspolitik war an eine ganz bestimmte geschichtliche Epoche gebunden. Die Sowjetunion hatte bei ihrem Siegeszug ab 1944 eine Reihe von Ländern im östlichen Mitteleuropa ihrem Machtbereich einverleibt. Dam evolution auf die vom Kapitalismus geknechteten Völker kannte keine Grenzen. Die militärische Option zum Sieg in dieser Rivalität lag bedrohlich auf dem Tisch. Mit dem Mauerbau in Berlin 1961 und dem Einmarsch in die Tschechoslowakei 1968 bewies die Sowjetunion ihre scheinbar grenzenlose Macht, vermittelte aber dem aufmerksamen Bootbeobachter eine bemerkenswert defensive Botschaft. Moskau hatte den Völkern des eigenen Machtbereichs und der ganzen Welt klar gemacht, dass von Überlegenheit und siegreicher Ausdehnung des sozialistischen Systems keine Rede mehr war. Es ging nicht mehr um Ideologie, sondern um Wahrung des territorialen Besitzstandes. Wenn sowjetische Panzer über ganz bestimmte in Berlin oder im Böhmerwald auf die Straße gemalte weiße Linien offenkundig nicht vordringen würden und wenn der Westen nicht mit der Befreiung östlicher Gebiete den Atomkrieg riskieren würde, gab es die Basis für ein geordnetes Nebeneinander. Im Schatten der politisch-militärischen Berechenbarkeit der beiden großen Bündnisse stand dem Handel, dem kulturellen und sportlichen Austausch und menschlichen Erleichterungen im Sinne von Besuchsmöglichkeiten nichts im Wege. Die Entspannungs- oder auch „Neue Ost“-politik hatte freilich auch ihre düstere Schattenseite: Die mutige Opposition in den östlichen Ländern wurde vom Westen weithin alleingelassen. Mehr noch: Das florierende wirtschaftliche Geschäft mit stabilen Diktaturen heute schien wichtiger als die Menschenrechte in diesen Ländern irgendwann.
Wandel durch Annäherung
Der Sozialdemokrat Egon Bahr (1922–2015), der als bedeutendster geistiger Vater der Entspannungspolitik geschichtlich unvergessen bleibt, war freilich nicht einfach ein netter Mensch, der den Frieden fördern wollte. Und erst recht war der scharfzüngige Journalist aus dem Kalten Krieg kein Freund der Kommunisten, wie Unionsparteien und Rechtspresse einst fantasierten. Er wusste vielmehr ganz genau, dass diplomatische Beziehungen, Reisefreiheit in beiden Richtungen, technologische Zusammenarbeit sowie Begegnungen von Schriftstellern, Sportlern und Künstlern die Erosion des wirtschaftlich erfolglosen und geistig erstarrten Ostblocks vorantreiben würden. Die Betonköpfe in Ostberlin, Warschau, Prag oder Moskau mochten sich vom Besuch westlicher Minister, Unternehmer, Filmstars, Schlagersängerinnen, Professoren und Ärztinnen geehrt fühlen, doch ahnten sie nicht, was die eigenen Eliten am Rande aller Tagungen mit diesem Westbesuch so alles besprechen würden. Eine Sache von Prestige und Ehre war es insbesondere für Erich Honecker, auf einer Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Helsinki mit eigenem Staatswimpel die internationale Anerkennung zu feiern. Doch als er heimkam, hatte er auch Menschenrechte für seine Untertanen mit seiner Unterschrift bestätigt. Wir kennen das Ergebnis: Der Ostblock scheiterte 1989 politisch und wirtschaftlich in einer zuvor nirgends geahnten Totalität.
Entspannungspolitik wird Geschichte
Mit der Auflösung eines von zwei Machtblöcken war die Entspannungspolitik zwischen zwei Machtblöcken historisch erledigt. In den drei Jahrzehnten seither ist die demokratische Welt nicht mehr mit einem so erstarrten wie berechenbaren großen Gegenspieler konfrontiert, sondern mit Regierungen und Bewegungen, die außer mit völliger Amoralität und Skrupellosigkeit ganz besonders mit ihrer Unberechenbarkeit kokettieren. Selbstverständlich musste man versuchen, einen Saddam Hussein oder einen Slobodan Milošević mit Verhandlungsangeboten im Appell an einen Rest von Rationalität von seinen Gewaltexzessen abzuhalten und ihnen bei Bedarf auch noch so faule Kompromisse anzubieten. Absurd ist der Vorwurf, „der Westen“ habe Putins Russland keine ausreichenden Gesprächsangebote gemacht. Genau das Gegenteil ist richtig. Politikerinnen und Politiker der USA, der EU und natürlich Deutschlands beugten sich über viele Jahre sogar absurden Demütigungen, um die Gnade einer Audienz von Wladimir Putin zu erlangen.
Grenzen des Gesprächs
Es gibt auf unserer Welt leider außer der in konstruktive Bahnen zu leitenden Interessenvertretung auch die schlicht kriminellen Motivationen. Mit mehrfach rückfälligen Sexualtätern, mit Geiselnehmern, mit Selbstmordattentätern und mit rassistischen Serienmördern kann nicht der friedenstiftende Kompromiss geschlossen werden, mit dem dann beide Seiten „leben“ können. Auf die große Geschichte bezogen: Es stimmt einfach nicht, dass der Erste Weltkrieg durch einen Mangel an diplomatischen Sondierungen ausgebrochen ist. Die Führungen Österreich-Ungarns und des Deutschen Kaiserreiches wollten jeweils ein ganzes Bündel innen- und außenpolitischer Probleme mit einem klassischen Territorialkrieg lösen, den man sich selbstverständlich kurz und siegreich vorstellte. Und noch extremer: Mit welchen Angeboten hätten Polen, die Westmächte oder die internationale Staatengemeinschaft 1939 Adolf Hitler von seinem „unabänderlichen Entschluss“ abbringen sollen, dem deutschen Volk Lebensraum bis jenseits von Moskau zu schaffen? Und wie bitte sehr soll der historische Kompromiss mit dem „Islamischen Staat“ aussehen?
Kriminelle Aktualität
Und so sind wir wieder bei der Tagespolitik: Seit dem 24. Februar 2022 wissen wir, dass keine „Sicherheitsgarantien“ für Russland und keine diplomatischen Freundlichkeiten für seinen Führer seine längst entwickelte und öffentlich formulierte Absicht tangiert hätten, die Ukraine von der europäischen Landkarte verschwinden zu lassen und ein Volk von 42 Millionen Menschen kulturell und ethnisch auszulöschen. Entspannungspolitik? Egon Bahr, Willy Brandt oder Helmut Schmidt wären die letzten gewesen, die für einen solchen Angriffskrieg Verständnis gezeigt hätten.
Andreas Knipping