„Die Extremisten von rechts und links“

04. Juni 2021

„Die Extremisten von rechts und links“
Zwei Tage vor der Wahl in Sachsen-Anhalt

von Andreas Knipping

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Vor der letzten Landtagswahl im Vorfeld der Bundestagswahl warten wir wieder einmal so dringlich wie vergeblich auf eine eindeutige und fundierte Absetzung der CDU von der AfD jenseits wahltaktischer Spielchen.

Ja, so beteuert man: Man wende sich in aller Schärfe „gegen Extremisten von rechts und links“ … und beweist damit, dass man auch in Grundsatzfragen über schlichte Wahlkampfrhetorik nicht hinauskommt. Wir mögen da zwar ein Problem in Richtung „rechts“ haben, aber ätsch: Ihr habt eben das Problem in Richtung „links“, und fertig. Einigen wir uns einfach in der „Mitte“.

Mitte und Radikalität

Ah ja: „die Mitte“! Wenn wir uns an die historischen totalitären Systeme Nationalsozialismus und Stalinismus erinnern, erscheint die Vorstellung etwas abenteuerlich, dass Demokratie, Rechtsstaat, Menschenrechte, Toleranz, soziale, ökologische und historische Verantwortung, Friedenspolitik und europäische Integration in der „Mitte“ zwischen diesen beiden Extremen angesiedelt sein sollen. Ist das Grundgesetz der historische Kompromiss zwischen Hitler und Stalin?

Was ist überhaupt „Extremismus“? Er ist begrifflich abzugrenzen vom Radikalismus. Radikale Forderungen sind in der Demokratie jederzeit erlaubt. Eine massive Erhöhung der Kosten für den motorisierten Individualverkehr, eine Überführung bedeutender Teile der Volkswirtschaft oder vielleicht des Wohnungsbestandes in öffentliche Trägerschaft: Diese Forderungen sind radikal, genauso aber auch die Ideen zur weitestgehenden Privatisierung aller öffentlicher Dienstleistung, zur Umstellung von der Steuerpflicht auf die Spenderlaune der Reichen oder zum Ersatz des vielteilig gegliederten Sozialstaates durch ein Grundeinkommen. Erlaubt sind solche Programmpunkte selbstverständlich. Sie haben sich in Wahlkämpfen und parlamentarischen Debatten zu bewähren und können umgesetzt oder verworfen werden.

Wer über Radikalität zu laut lacht, sei immer wieder einmal an Ideen von einst erinnert, die seinerzeit wahlweise auf Empörung oder Erheiterung stießen und heute selbstverständliche Realität sind. Meine Altersgruppe hat Zeiten erlebt, in denen die Abgabe staatlicher Hoheitsrechte an europäische Institutionen, die vollständige Akzeptanz von Partnerschaften außerhalb der Ehe, Moscheen in Deutschland, die paritätisch finanzierte Pflegeversicherung, das kommunale Wahlrecht für EU-Ausländer, die Ehe für alle, der Soldatenberuf für Frauen usw. usw. wahlweise als Karnevalsscherze oder als Untergang des Abendlandes behandelt wurden.

Schärfer zu sehen sind extreme Forderungen. Die Wiederherstellung der Monarchie für Deutschland oder Bayern, der Austritt Bayerns aus der Bundesrepublik Deutschland oder die Wiedereinführung der Todesstrafe würden dem Grundgesetz widersprechen. Und auch die europäische Integration hat bei uns längst Verfassungsrang, so dass der von der AfD neuerdings programmatisch fixierte Austritt aus der EU ebenfalls grundgesetzwidrig ist. Es hat sich jedoch bewährt, auch extreme grundgesetzwidrige Forderungen solcher Art gesellschaftlich zu tolerieren und auf ihre Ablehnung durch die breite vernünftige Mehrheit zu vertrauen.

Extremismus als Gesamtkonzept

Zum Extremismus gehört weit mehr als Radikalität und Originalität. Es geht jeweils um die aktiv betriebene Abkehr von unserer durch jüdische Tradition, antike Philosophie, römisches Staats- und Rechtsdenken, Christentum, Aufklärung, französische Revolution, Demokratische Revolution 1848, Arbeiterbewegung, antifaschistischen Widerstandskampf, Menschenrechte, Grundgesetz, Europäische Werte sowie historische, soziale und ökologische Verantwortung geprägtes Gesellschafts-, Rechts und Staatsmodell. Ich kann drei extremistische Konzepte aus Vergangenheit und Gegenwart mit einer gewissen Relevanz für uns erkennen. - Extremistisch ist das Modell einer mit militärischer Disziplin kommandierten homogenen „Volksgemeinschaft“ unter charismatischen Führerfiguren, zusammengehalten durch soziale Wohltaten für widerspruchslos angepasste Personen, durch die gemeinsame Bereicherung auf Kosten ausgegrenzter, verjagter und ermordeter Minderheiten und durch Verfestigung des Machtgefälles zulasten anderer Lände und Kontinente.
- Extremistisch ist das Modell der Zwangsbewirtschaftung aller Produktions- und Konsum- und Kommunikationsverhältnisse für ein an den Grenzen eingesperrtes und im Inneren durch Geheimpolizei und Terrorjustiz diszipliniertes Volk unter dem fiktiven Anspruch sozialer Gleichheit bei realer Privilegierung einer abgeschotteten Funktionärsschicht.
- Extremistisch ist ebenfalls das Konzept eines Kalifats oder Sultanats, in dem eine kleine Gruppe fanatischer Wortführer die angeblich gottgefällige Lebensform definiert und jede Abweichung davon mit der Vernichtung der „Ungläubigen“ ahndet.
Gewalt als zentrales Gestaltungsmittel aller Politik ist den Extremismen gemeinsam. Erinnert sei an das Konzept von „rechts“, „links“ und „Mitte“. Wo in diesem Schema haben wir denn eigentlich den Islamismus einzuordnen?

Kommunismus ante portas?

Für europäische und deutsche Politik im 21. Jahrhundert ist maßgeblich, welche extremistische Bewegung in welchem Maße unsere Ordnung, unsere Werte und unsere Freiheit bedroht. Redner aus Unionsparteien und FDP und konservative Autoren halten eisern fest an der Fiktion, die Linkspartei, weite Teile der Grünen und eine geheimnisvolle Minderheit in der SPD würden unablässig am großen alten kommunistisch-kollektivistischen-weltrevolutionären Plan festhalten.

Wenn wir mit unserer eigenen Partei, der SPD, beginnen: Es ist einfach absurd und unhistorisch, der Partei von Ernst Reuter, Kurt Schumacher, Herbert Wehner und Willy Brandt eine kommunistische Schlagseite zu unterstellen. Ernst Reuter wurde zur Symbolfigur des Standhaltens der Berliner gegen die sowjetische Blockade 1948/49. Der Gründervater der Nachkriegs-SPD Kurt Schumacher pflegte eine wahrhaft leidenschaftliche antikommunistische Rhetorik und wurde demgemäß von der SED nicht weniger gehasst als Konrad Adenauer. Herbert Wehner steht mit seiner leidvollen Lebensgeschichte für die Abkehr vom Irrweg des Stalinismus. Und Willy Brandt war der Regierende Bürgermeister von Berlin, der den Mauerbau miterleben musste und der den Fall der Mauer miterleben durfte, nachdem er im Dialog mit Funktionären des Ostens seine Entspannungspolitik vorangetrieben hatte und in den Zeiten der deutschen und europäischen Teilung das Leben der Menschen erleichtert hatte. Selbstverständlich hat in der SPD die Erforschung, Pflege und Aneignung der geistesgeschichtlichen Wurzeln der Arbeiterbewegung mit den Werken von Marx, Engels, Bebel, Liebknecht und Luxemburg ihren Platz. Es wird aber Zeit, vom geistigen Kurzschluss des Kalten Krieges abzurücken, dass jeder Leser des Kommunistischen Manifests von 1848 ein Freund Stalins oder Ulbrichts sei.

Kommunismus mit Baerbock?

Im Wahlkampf wird noch eine erhebliche Rolle spielen, inwieweit die Grünen mit volkspädagogisch-dirigistischen Konzepten die drängenden ökologischen Probleme meistern wollen. Über Sinn und Unsinn von Kurzstreckenflügen, freistehenden Eigenheimen, Mittelmeerkreuzfahrten, Geschäftsreisen mit schnellen und dicken Autos, Flugtaxis oder sieben fleischhaltigen Hauptmahlzeiten pro Woche ist hier nicht zu diskutieren. All dergleichen jedoch über Preise, Steuern oder rechtliche Einschränkungen begrenzen zu wollen, hat nun mal einfach nichts mit Kommunismus und Extremismus zu tun. Man würde ja jeden echten Kommunisten (wenn man denn noch einen träfe, siehe unten!) beleidigen, wenn man den Marxismus-Leninismus mit dem Verbot von Bratwürsten und der Besteuerung von Urlaubsreisen definieren wollte.

Stalin, Ulbricht, Gysi?

Und dann natürlich die Linkspartei. Sie ist bekanntlich aus der SED hervorgegangen, der stalinistischen Zwangsgeburt aus der feindlichen Übernahme der SPD in der sowjetischen Zone Deutschlands 1946. Wir sind jedoch alt genug, um mitbekommen zu haben, dass die SED in den 1980er-Jahren keine aggressiv-revolutionäre Partei mehr war, die drauf und dran war, in der Bundesrepublik den Umsturz vorzubereiten. Vielmehr war sie weithin das Forum jener technischen, wissenschaftlichen, ökonomischen und administrativen Eliten, die sich dem unaufhaltsamen Niedergang des verfehlten Systems entgegenzustellen versuchten. Mit einem bleischweren Ballast an ideologischen Betonköpfen und unbelehrbaren Vollstreckern der Repression in Staatssicherheit, Grenztruppen und Pseudojustiz war diese Partei selbstverständlich keine Trägerin von Sympathie innerhalb der selbstgezogenen Mauern oder gar westlich davon. Unvergessen bleibt aber auch, wie verantwortungsbewusst sich SED, NVA, Volkspolizei, Kampfgruppen, Stasi, Grenztruppen usw. 1989/90 ohne einen Schuss Pulver von der Macht verabschiedet haben.

In nunmehr drei Jahrzehnten kommunal-, landes-, bundes- und europapolitischer Verantwortung haben zahllose Vertreterinnen und Vertreter der nunmehrigen Linkspartei eine antiquierte dogmatisch-staatsinterventionistische Variante sozialdemokratischer Programmatik verfochten. Mit gewaltsamem Umsturz hat das nichts zu tun. Provokationen, absurde Anträge und Initiativen lediglich zur Störung oder Verhöhnung der parlamentarischen Arbeit, Sabotage behördlicher Tätigkeit, menschenfeindliche Sprüche an Rednerpulten und all die anderen von der AfD tagtäglich gewohnten Praktiken hat man von der Linkspartei nicht erlebt. Die Bezugnahme auf Oktoberrevolution, Sowjetunion und DDR hat sich längst auf das Muster ritualisierter Traditionspflege reduziert.

Kein Missverständnis: Ich bin kein Freund und kein Wähler und bekanntlich auch kein Mitglied der Linkspartei, kann aber ihre Betrachtung als spiegelbildliche Entsprechung der AfD am anderen Ende des politischen Spektrums nur als polemischen Unsinn zurückweisen. Dass sie eine der verfassungsmäßigen Ordnung verpflichtete rechtsstaatlich und demokratisch arbeitende Partei ist, unterliegt nach schlichter Beobachtung ihrer jahrzehntelangen Praxis keinem Zweifel.

Kommunismus mit DKP oder KPD/ML?

Nicht Adenauers CDU und nicht Schumachers SPD und nicht Mendes FDP und erst recht nicht die CSU von Franz Josef Strauß und nicht die zahllosen flammenden Predigten und feurigen Leitartikel zur Entlarvung von Jazz, freier Liebe, Beatmusik, Haschisch, langen Haaren, LSD, Antibabypille, Homosexualität, Kriegsdienstverweigerung, Feminismus, Kernkraftkritik, Abtreibung, Kirchenaustritt, türkischer Zuwanderung, jüdischen Lebens, abstrakter Malerei und vegetarischer Ernährung als tückischen Anschlägen aus Moskaus Revolutionsküche haben den Kommunismus ruiniert. Das hat er ganz alleine geschafft. Die Berliner Blockade und die Niederschlagung des Aufstandes vom 16.–17. Juni 1953 taten das Ihre. Schon bei der Bundestagswahl 1953 verfehlte die KPD die Fünf-Prozent-Hürde. Mit dem Mauerbau 1961 und der Besetzung der Tschechoslowakei 1968 begrub man den Kommunismus endgültig. Es gab 1970 oder 1980 in Ost und West und gibt 2010 oder 2021 wirklich nur noch ganz wenige Leute, die sich dieser historischen Wahrheit verschließen wollten oder wollen. Die Wahlergebnisse der DKP oder der KPD/ML sprechen seit jeher für sich. Man kann die Erde für eine Scheibe oder die Berliner Mauer als einen Beitrag zum Weltfrieden sehen. Eine Gefahr für die Gesellschaft besteht darin nicht.

Heiliger Krieg

Eine ganz andere Dynamik entfaltet in Europa der Islamismus. Immer wieder muss dem absurden Verdacht entgegengetreten werden, die „linksgrüne“ Hälfte der Gesellschaft pflege eine romantisierende Nachsicht mit dieser Ideologie oder habe ihr mit dem gesteuerten Zuzug islamischer Massen erst den Raum bei uns gegeben. Historische Erinnerung kann nie schaden! Dass Millionen Türkinnen und Türken oder Menschen mit türkischen (wie auch nordafrikanischen) Wurzeln vor nun schon zwei oder drei Generationen bei uns leben, haben keine „Multikulti“-Fanatiker organisiert, sondern wurde auf die dringende Anforderung von Industrie, Bergbau, Bundesbahn und Kommunalverwaltungen in den 1960er-Jahren in die Wege geleitet. Die Unmittelbarkeit der türkischen Zuwanderung wegen des Arbeitskräftebedarfs wird illustriert durch das Datum des ersten Anwerbeabkommens mit der Türkei am 30. Oktober 1961. Noch kein Vierteljahr war es her, dass die DDR mit dem Mauerbau den ständigen Zustrom deutscher Arbeitskräfte in die Bundesrepublik beendet hatte, als man sich nun sogleich von weiter weg bediente.

Es gibt keinen Grund, heute terroristische Aktivitäten aus angeblich religiöser Motivation zu verharmlosen. Polizei und Justiz sind gehalten, die insoweit vollkommen ausreichenden Strafgesetze anzuwenden. Bezüglich der Verfassungsschutzbehörden beklage ich nicht – wie Teile der Linkspartei – ihre Existenz, sondern ihre oftmals mangelnde Effektivität. Jedoch: Die gesellschaftliche Resistenz gegen solchen Terrorismus ist hoch, und zwar auch beim islamischen Teil der Bevölkerung. In keinem Parlament und in keiner Behörde und in keinem Gericht arbeiten Propagandisten des sunnitischen oder schiitischen Religionskrieges. „Gefährder“ aus Syrien oder aus dem Irak sind kaum jemals deutsche Staatsangehörige. Langjährige Haft oder baldige Abschiebung stehen Ihnen eher bevor als die Verbeamtung oder die Wahl in den Bundestag.

Millionen Mitbürgerinnen und Mitbürger islamischen Glaubens haften selbstverständlich nicht für religiös bemäntelte Gewaltkriminalität.

Die breite Rechtsfront

Ja, und nun der dritte Flügel des Extremismus. Der nationalautoritäre, völkische, rassistische Extremismus beweist ungebrochen seit 1945 immer noch und immer wieder die weitaus größte Vitalität und Präsenz und oftmals blutige Aktivität. Terrorismus mit vorgeblich linker Begleitrhetorik hat in Gestalt der Roten Armee Fraktion in dem langen und schon recht weit zurückliegend Zeitraum zwischen 1971 und 1993 insgesamt 34 Menschen ermordet. Die staatliche und mediale Aufmerksamkeit für die Verbrechen war grenzenlos, die Signalwirkung für eine revolutionär anzustachelnde Arbeiterklasse gleich Null. Dass aber allein 1980 der Rechtsextremismus mit dem Oktoberfestattentat in München und dem Doppelmord in Erlangen 14 Mordopfer zu verantworten hatte, führte nicht zu institutioneller und öffentlicher Irritation. Und wenn wir nun die Zahl der Todesopfer seit dem Ende der RAF-Aktivitäten 1993 betrachten, so verzeichnen wir nun mit linker Motivation oder Rhetorik in diesem Zeitraum kein Todesopfer und mit rechter Motivation und Rhetorik eine im einzelnen umstrittene aber jedenfalls beachtliche dreistellige Zahl von Todesopfern.

Versprengte marxistisch-leninistische, trotzkistische, maoistische oder anarchistische Wortführer oder Eiferer des Heiligen Krieges gegen die Ungläubigen finden wir in Kommunal- und Landesparlamenten oder im Bundestag nicht. Der völkisch-autoritär-rassistische Flügel ist überall vertreten. Die AfD kann sich auf breiteste Stimmungen berufen, die in der Publizistik und am Stammtisch vehement vertreten sind. Tilo Sarrazins Bibeln des modernen Rassismus haben Millionenauflagen erzielt; seine Lesungen veranlassen nicht nur die vielzitierten abgehängten Randfiguren des Ostens, sondern bestes Bürgertum zu Beifallsstürmen. Zeitschriften mit intellektueller Attitüde verleihen dem Faschismus philosophische Glanzlichter. AfD, Pegida, Identitäre, NPD und Reichsbürger stehen in vielfältigem personellen und aktivistischem Austausch.

Mit Vermutungen über Zusammenhänge von Angela Merkel mit Stasi oder „Weltjudentum“, mit der Klage über unseren „immer noch fehlenden Friedensvertrag“, mit Geschichten über „gesteuerte Zuwanderung“, mit Zweifeln an der vollwertigen Staatsangehörigkeit von Menschen dunkler Hautfarbe oder mit Sprüchen über „Messermänner“ und „Kopftuchmädchen“ erntet man am Stammtisch oder in der Nachbarschaft keine Empörung.

Bestürzend ist die institutionelle Verankerung des Rechtsextremismus. Nicht im letzten Hinterzimmer einer Polizeidienststelle im Osten hat man seit 1990 noch irgendein Bild von Thälmann, Stalin, Ulbricht oder Mielke gefunden. Nirgends haben sich Polizisten im Stasi-Vokabular verständigt. Doch das Hitlerbild groß in der Privatwohnung und diskret im Amtszimmer, der Hitlergruß unter einer E-Mail oder der kleine Scherz mit der Gaskammer gehören zum polizeilichen Alltag. In den uniformierten und bewaffneten Organen des Staates lebt ein beklemmendes Geschichtsbild. Wehrmacht, SS, Gestapo: Nun ja, unsere Kollegen von einst. Sicher, sie haben gegen lästiges Pack manchmal zu scharf durchgegriffen (würden wir auch manchmal gerne), sie waren noch echte Männer von Schrot und Korn. Es war Krieg. Übergriffe und Verbrechen gibt‘s da immer mal. Und in so manchem Keller findet die Polizei nicht nur Hetzschriften und Hakenkreuzfahnen, sondern Waffenlager.

Ich erwähnte die dreistellige Zahl von Todesopfern durch rechte Mordlust. Zehntausende Menschen wurden wegen ihrer Hautfarbe, ihrer Kopfbedeckung, ihrer Sprache, ihrer sexuellen Orientierung oder ihrer Religionsausübung bespuckt, geschlagen, aus Wohnorten oder Wohnvierteln verjagt. Polizei und Justiz üben Nachsicht. Mord wird als Körperverletzung mit Todesfolge behandelt, schwere oder gefährliche Körperverletzung als einfache Körperverletzung, Nötigung als Beleidigung, Volksverhetzung als freie Meinungsäußerung. Solange kein Blut geflossen ist, haben die typischen Staatsanwaltschaften der neuen Bundesländer die Akten stets geschlossen, ohne Anklage zu erheben. Wenn es tatsächlich zu einem Strafverfahren kommt, so dauert das Verfahren eigenartigerweise so lang, dass die Zeugen sich nicht mehr richtig erinnern und dass man den Angeklagten inzwischen ihre gelungene soziale Integration glauben kann. Mit einer für die weitere Aktivität nur ermutigenden Bewährungsstrafe gehen die Täter dann triumphierend aus dem Gerichtssaal. Dass der Verfassungsschutz des Bundes bis 2018 von einem Mann geleitet wurde, der jetzt als rechtsradikaler Eiferer gegen die Demokratie hetzt, könnte sich kein Kabarettist ausdenken.

Ja, und drei Tage vor der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt und ein Vierteljahr vor der Bundestagswahl beobachten wir eben mit Beklemmung auch wieder die Verharmlosung des Rechtsextremismus durch Union und FDP. Man wendet sich mit flammender Empörung gegen Benzinpreiserhöhung, Mietenstopp, Einschränkung von Billigflügen und drohende Vermögensteuer, und man wendet sich mit flammender Empörung gegen antisemitische Hetze, Verharmlosung des Holocaust, rassistische Massendemonstrationen, Bewaffnung von Reichsbürgern – und man erkennt nicht die skandalöse Asymmetrie in dieser Symmetrie der Ausgewogenheit. Und man leistet sich eine „Werte-Union“, die der höhnischen Denunziation aller grundgesetzlichen Werte Stimme und Gewicht verleiht.

Schön wäre es …

Nach alledem kann ich mir wirklich nur wünschen, dass alle demokratischen Parteien von FDP bis Linke auf der Basis ihrer legitimen Konkurrenz um Wählerstimmen und unter Wahrung ihrer Gegensätze ihre umfassende Koalitionsfähigkeit anerkennen, auf gegenseitige Diskriminierungen aufgrund karikaturistischer Zuschreibungen aus der Zeit des Kalten Krieges verzichten, in ihren eigenen Reihen auf Verfassungstreue wertlegen, in ihren Regierungsfunktionen die Verfassungstreue der Beamtenschaft und insbesondere der bewaffneten Organe unnachsichtig durchsetzen – und dem Rechtsextremismus einvernehmlich entgegentreten.

Andreas Knipping

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