Mein Vater erklärte gern uns beiden Söhnen technische und naturkundliche Zusammenhänge. Mein vier oder fünf Jahre alter Bruder – vielleicht überfordert mit Komplexität und Länge der Erläuterungen – ärgerte ihn dann oft mit der lapidaren Antwort: „Das glaube ich nicht!“ Auf demselben Niveau des kindlichen Trotzes provoziert uns gegenwärtig eine laute Minderheit mit brüllenden Bekenntnissen ihres „Glaubens“ oder „Nichtglaubens“. Wissenschaft? Glaube ich nicht! Medizin? Glaube ich nicht! Corona? Glaube ich nicht! Wirksamkeit der Impfung? Glaube ich nicht! Volle Intensivstationen? Glaube ich nicht! Wahlniederlage Trump? Glaube ich nicht! Zeitung? Glaube ich nicht! Internet? Glaube ich (außer natürlich Wikipedia)! Homöopathie? Glaube ich! Deutsches Reich lebt? Glaube ich! Deutschland eine GmbH? Glaube ich!
Große Fraktionen in unseren vermeintlich aufgeklärten Gesellschaften halten Wissenschaft insgesamt nur für eine Fabrik von Meinungen, denen man „glauben“ oder „nicht glauben“ kann. Evolution allen Lebens über Milliarden Jahre oder Gottes Schöpfung binnen einer Woche? Keine Ahnung! Die Erde eine Kugel oder flach? Naja, wer kann das wissen. Viren? Irgendein Arzt bestreitet ihre Existenz doch gänzlich! Geradezu peinlich überhöht sich die Wissensverweigerung gerne mit einem geistigen Gemischtwarenladen aus Schamanentum, indianischen Weisheiten, Anthroposophie, fernöstlicher Religiosität und völkischen Hassparolen aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit reichlich Antisemitismus.
Man ahnt nicht, dass die Idee der Verursachung der Pest durch atmosphärische „Miasmen“, die Wirkungsfantasien der Homöopathie und allerhand Vorstellungen von „Feinstofflichkeit“, „Phlogiston“ oder „tierischem Magnetismus“ sowie auch die Farbenlehre des verehrten Goethe allesamt aus Zeiten stammen, in denen sich eine wissenschaftliche Arbeitsweise mit ihren Methoden der Verifizierung und Falsifizierung noch nicht durchgesetzt hatte und in denen daher kreative Spekulationen zu Naturbeobachtungen einfach „geglaubt“ oder „nicht geglaubt“ wurden.
Was ist denn Glaube? Als Richter hatte ich Prozessparteien und Gutachtern nicht zu „glauben“, sondern hatte nach anerkannten Regeln zu beurteilen, ob eine vorgetragene Behauptung „zur Überzeugung des Gerichts bewiesen“ ist. In die gerichtliche Überzeugungsbildung fließen selbstverständlich auch subjektive Faktoren ein, mit denen aber die Entscheidungsfindung nicht zur Beliebigkeit einer Meinungsfreiheit wird.
In jeder Religion hat das persönliche Bekenntnis zum Glauben eine zentrale Bedeutung. Glaube ist viel älter als die Wissenschaft der jüngsten 150 Jahre und ist demgemäß nicht das provokante Konkurrenzprogramm zur Wissenschaft. Bauchgefühl gegen Gehirn? Sollte das wirklich das Wesen von Religion sein? Glaube ist nicht das Überzeugtsein von einem je nach Religionsgemeinschaft unterschiedlichen Bündel von Legenden, sondern eine Haltung. Glaube ist nicht das Gegenteil von Wissen. Dass sich das Leben im Lauf von Milliarden Jahren evolutionär entwickelt hat, glaube ich nicht, sondern das weiß ich. Dass die Verbrennung fossiler Rohstoffe seit 250 Jahren eine Klimakatastrophe bewirkt hat, glaube ich nicht, sondern das weiß ich. Dass nicht Gott die Welt binnen einer Woche erschaffen hat, weiß ich auch. Ich spotte aber nicht über die Schöpfungsmythen, die in längst vergangenen Zeiten die Entstehung des Weltalls, der Erde, der pflanzlichen und der tierischen Welt und zuletzt des Menschen vorstellbar machten. Selbstverständlich weiß ich auch, dass es Jesus Christus nicht ohne vorherigen Sexualkontakt Marias gegeben hätte und dass er nicht nach seinem klinischen Tod im Sinne des irreversiblen Erlöschens der Gehirnströme körperlich wieder auferstanden sein kann. Ich spreche aber beim – ganz selten besuchten – Gottesdienst die entsprechenden Formeln mit und verbeuge mich damit vor den Menschen, die mit solchen zeitbedingten Mythen der unerhörten Spiritualität der historischen Gestalt Jesus Christus gerecht zu werden versuchten. Ich weiß auch, dass ich nicht in einem ewigen Leben wieder am Familien- und Stammtisch wieder mit meiner irdischen Umgebung zusammensitzen werde. Ich weiß aber auch, dass ich eben nicht weiß, was in den Tagen, Stunden, Minuten und Sekunden meines Todes in mir stattfinden wird. Glaube ist lebenslange Vorbereitung auf das Sterben. Ziel des Glaubens ist es, den Tod als die große Kränkung unseres wie auch immer großen Lebens hinnehmbar zu machen. Wohl dem, der in äußerer Begleitung und innerer Versöhnung sterben kann. Für mich bedeutet Glaube, ein Fenster zu einer spirituellen Dimension offenzuhalten. Kein Kunstfehler von Religion, sondern das Geheimnis von Religion ist es, dass ich nicht wissen kann, was sich in der Unendlichkeit hinter diesem Fenster verbirgt. Ich verehre Menschen, die in dieser Ungewissheit dem gerecht werden wollten, was sie jenseits dieses Fensters geahnt haben. Martin Luther. Dietrich Bonhoeffer. Johann Sebastian Bach. Die Geschwister Scholl. Aufgrund ihres Glaubens haben sie gewusst, was sie zu tun hatten.
Ich lächele übrigens über die Leidenschaft mancher Atheisten. Es ist selbstverständlich unbenommen, die Existenz eines höheren Wesens strikt zu bestreiten. Aber der Eifer des Vortrages, dass es um Gottes Willen keinen Gott geben dürfe, ist seinem Wesen nach ein religiöser Eifer, ein Glaubenseifer.
Glauben? Da steckt unendlich viel mehr drin als in der Frage, ob ein kleiner Bub Papas Erklärungen akzeptiert – oder ob ein mental genauso klein gebliebener Querdenker, Reichsbürger, Impfgegner oder wer auch immer den Stolz auf seine Borniertheit feiert. Wir arbeiten im Diesseits der Politik. Sie hat sich an überprüfbaren Erkenntnissen zu orientieren und nicht an pseudoreligiösem Geschrei, ganz egal ob es von Faschisten, Islamisten, „Lebensschützern“, Coronaleugnern oder Wotanjüngern kommt.
Andreas Knipping