50 Jahre Kniefall von Warschau

09. Dezember 2020

Erinnerungen und Irrtümer (von Andreas Knipping)

Ja, man wird nicht jünger! Jetzt bin ich schon in einer Lebensphase mit bewussten Erinnerungen an Ereignisse, die ein halbes Jahrhundert zurückliegen.

Die legendäre Reise von Willy Brandt am 19. März 1970 nach Erfurt! Was die SED als Galavorführung ihrer Souveränität geplant hatte, geriet ihr zum bleibenden Trauma der Massenkundgebung für den Kanzler des geschmähten Westdeutschland. Größte Stasi-Panne zwischen 1953 und 1989! Und dann die Ostverträge! Mit beginnendem juristischem Denken war ich fasziniert von der Erkenntnis, dass die Bundesrepublik zwar mit der in Zeiten der deutschen Teilung noch unvollkommenen Vertretungsbefugnis nicht für ganz Deutschland verbindlich die seit 1945 bestehende deutsche Ostgrenze anerkennen konnte, wohl aber die damit identische seit 1945 bestehende polnische Westgrenze.

Gespräche, anstrengendste Verhandlungen, kluge Vertragstexte sind eine unersetzliche kommunikative Ebene. Ich bekenne mich zu meiner Ehrfurcht z.B. vor Geschick und Energie des fast 80-jährigen Konrad Adenauer 1955 in Moskau. Aber Sprache ist nicht alles. 1970 war der Begriff der Körpersprache noch kaum geläufig. Aber dennoch hat und hatte zumal in einer Zeit des Fernsehens (und immer noch der Kino-Wochenschau!) die körperliche Symbolhandlung ihr eigenes unvergleichliches Gewicht. Inmitten der verbalen politischen Welt mit parlamentarischen Redeschlachten und diplomatischen Deklarationen erlebten wir die kostbare Minute des Kniefalls – und des Schweigens. Des Schweigens vor einer geschichtlichen Wirklichkeit, vor der Worte versagen mussten.

Und schon begannen Fehldeutungen und Missverständnisse bis in das Gedenken des Jahres 2020 hinein. Brandts Kniefall als Geste der deutsch-polnischen Aussöhnung? Vorsicht! Der Überfall der Wehrmacht 1939 auf Polen und die planmäßige Ermordung vieler tausend führender Persönlichkeiten, darunter vieler katholischer Geistlicher einerseits, und die Konzentration polnischer und ausländischer Juden im Warschauer Ghetto zum Abtransport in die Gaskammern 1942-43 andererseits: das sind zwar beides nationalsozialistische Verbrechenstatbestände derselben Epoche im selben Land, aber die Tatbestände sind nicht deckungsgleich. Polnische Nation und osteuropäisches Judentum: das ist nicht dasselbe! Zahllose Journalisten und Politiker taten der historischen Erinnerung und der vielzitierten Aussöhnung keinen guten Dienst, wenn sie mal eben den jüdischen Ghetto-Aufstand 1943 mit dem nationalen Warschauer Aufstand von 1944 verwechselten. Der winterliche Kniefall von Warschau 1970 symbolisierte gewiss einerseits das schweigend-sprachlos-ergriffene Bekenntnis zu der gesamten im Zweiten Weltkrieg zwischen Griechenland und Estland, zwischen Polen und Rumänien, zwischen Böhmen und Leningrad im „Osten“ aufgehäuften unfassbaren deutschen Schuld, galt aber doch ganz speziell den planmäßig in Polen ermordeten jüdischen Opfern und damit dem unvergleichlichen Massenmord des Holocaust.

Spannend ist die Frage, wer in welchem Maße Adressat der wichtigsten politischen Symbolhandlung der deutschen Nachkriegsgeschichte war. Staat und Volk in Polen? Gewiss! Der Ostblock (allen voran die DDR) mit seiner penetranten Propaganda gegen ein angeblich militaristisches und kriegsentschlossenes Westdeutschland? Gewiss! Eine Weltöffentlichkeit, der ein verändertes Deutschland präsentiert wurde? Gewiss! Aber in einem ganz entscheidenden Maße galt die Botschaft von Warschau dem eigenen Land, dem eigenen Volk. Die Bundesrepublik hatte über zwei Jahrzehnte den Antikommunismus zum verbindenden Mythos über alle historischen Gräben erhoben. Gegen den Kommunismus konnten sie ja nun alle sein, die ehemaligen Nazis und die fast-noch-Nazis, die Christdemokraten und die Sozialdemokraten und die Liberalen, die Katholiken und die Protestanten und die überlebenden Juden, die Arbeitgeber und die Gewerkschaften, die letzten Monarchisten, die Vertriebenenverbände und die Intellektuellen. Der Kommunismus schuf ja auch ununterbrochen (im wahrsten Sinne des Wortes!) „schlagende“ Gründe für seine vollständige Ablehnung. Historisch verstauben musste der Antikommunismus mit dem Absterben eines innenpolitischen kommunistischen Gegners. Die KPD hatte 1953 bereits die Fünf-Prozent-Hürde verfehlt und lebte nur noch von ihrem Märtyrerbonus nach dem völlig überflüssigen Verbot von 1956. Die Panzerkolonnen des Warschauer Pakts in der verbündeten Tschechoslowakei 1968 waren letzter Leichenzug des Kommunismus. Unsere ebenfalls 1968 (wieder)gegründete DKP und die maoistischen K-Gruppen kamen über unfreiwillige politische Komik nicht hinaus. Kurios genug versuchten unter diesen Bedingungen Professoren, Pfarrer, Publizisten und Politiker krampfhaft, den Kommunismus ersatzweise für alle vermeintlichen Zersetzungselemente der westlichen Welt verantwortlich zu machen. Jazz und Beatles, Antibabypille und unverheiratetes Zusammenleben, Wohngemeinschaften und etwa gar Kommunen, Rauschgift und Kirchenaustritt, Bikini und oben ohne, öffentliche Diskussion von Rüstungsangelegenheiten und (sehr wichtig!) Kriegsdienstverweigerung und vor allem natürlich der Gedanke an Verhandlungen mit dem „Osten“ über das gigantisch aufgelaufene Arbeitspensum diplomatischer, ökonomischer, administrativer, humanitärer, kultureller, verkehrstechnischer und sportlicher Fragen: alles und alles kommunistische Attacken!

Willy Brandts Kniefall war die große Mahnung gegen solche Paranoia: Nein, wir (die Erben von Kurt Schumacher!) sind keine Kommunisten, wir (die Partei von Herbert Wehner!) lieben die Kommunisten nicht, wir (die Erben von Ernst Reuter!) unterwerfen uns den Kommunisten nicht, aber das deutsche Thema des 20. Jahrhunderts ist nun einmal nicht der Kommunismus, sondern ist die in den Holocaust mündende Explosion der Gewalt unter den so verführerischen wie brandstiftenden Fackelzeichen von Volk, Rasse und Führertum. Nicht (wie einst ein CSU-Abgeordneter vermutete) die Berliner Mauer, sondern Auschwitz ist das schauerlichste Bauwerk jenes Jahrhunderts.

So tragisch wie kurios: 1970 stand unsere Gesellschaft noch ganz am Anfang ihrer Besinnung auf Schuld und Mitschuld, Mitwisserschaft und Schuldgefühl, Unrecht und mangelnde Sühne, verschwiegene Opfergeschichte und verweigerte Entschädigung. Auch Willy Brandt selbst täuschte sich fatal, wenn er damals von einem „Schlussstrich“ sprach. 1970: da wurden zahllose Gerichte, Schulen, Firmen, Behörden und Verbände mit größter Selbstverständlichkeit von ehemaligen Mitgliedern von NSDAP, SA und SS geführt, da regte sich niemand auf, wenn eine Vielzahl von Abgeordneten der Unionsparteien und der FDP „alte Kämpfer“ der Nazibewegung mit einem Beitritt schon vor 1933 oder Organisatoren und Nutznießer des Holocaust gewesen waren. Die Zeit für einen Paradigmenwechsel (auch dies ein Wort, das 1970 noch niemand kannte) war nun wirklich gekommen. Und auch klar: verantwortliche Außen- und Friedenspolitik in Europa vielleicht etwa gar mit der fernen Utopie der deutschen Einheit wird nicht mit der weiteren Anwendung des plumpen Grundsatzes „mit Kommunisten spricht man nicht!“ zu haben sein.

Für mich und einen ganz großen Teil meiner ganzen Generation war spätestens mit dem Kniefall von Warschau klar, wo ich und wo wir politisch hingehören. Ich war und bin kein Arbeiter und stamme nicht aus einer Arbeiterfamilie. Ich bin bis heute stolz darauf, aus einer „bürgerlichen“ Familie heraus das Bewusstsein entwickelt zu haben, dass eine durch Bildungschancen begünstigte studierende Jugend ihre politische Heimat in der für historische Verantwortung stehenden SPD zu finden habe. Die Politik von Willy Brandt mit ihrem prägendsten Ausdruck im Kniefall von Warschau veränderte freilich auch Bild und Selbstbild der Sozialdemokratie für immer. Ich habe in den vergangenen Jahrzehnten zahllos oft die nostalgische Beschwörung zu widerlegen versucht, dass wir damals zu den seligen Zeiten von Willy Brandt eben noch eine wahre Arbeiterpartei gewesen seien, mit einer kompromisslosen klassenbewussten Interessenpolitik, an deren Horizont schon der demokratische Sozialismus aufgeleuchtet habe. Auch hier wieder: Vorsicht! Die SPD zumal in der Koalition mit der FDP blieb in ihrer Regierungspolitik absolut auf dem Kurs der auf privates Unternehmertum gestützten sozial abgefederten Marktwirtschaft. Gewiss schaffte die sozialliberale Koalition bedeutende Verbesserungen für bisher benachteiligte Schichten, verstärkte die betriebliche Mitbestimmung und stärkte die Bedeutung der Gewerkschaften im nationalen Meinungs- und Machtspektrum. Aber auch wenn man sozialpolitisch vieles für die Arbeiter tat, bediente man mit der verhängnisvollen Rentenreform vom Oktober 1972 auch unfassbar großzügig die Besserverdiener. In meiner langjährigen Berufstätigkeit im Dienst der Rentenversicherung habe ich nachverfolgt, mit welcher Mühe der Gesetzgeber über Jahrzehnte die Geschenke jenes unseligen Oktober diskret wieder einzusammeln versuchte.

„Mehr Demokratie wagen“? Politik für die Arbeiterklasse? Das waren nicht die Schlagzeilen der ersten Amtsperiode der sozialliberalen Koalition 1969-72. Mit der Reise nach Erfurt, dem DDR-Gegenbesuch in Kassel, dem Gewaltverzicht in Moskau, dem Kniefall in Warschau und schließlich 1971 dem Friedensnobelpreis für Willy Brandt erweiterte sich das Profil der SPD zur entschiedensten Partei des Friedens, der politischen Moral und – da sind wir wieder vor dem Denkmal der Helden des Ghetto-Aufstandes von 1943 – der tiefernsten historischen Verantwortung im unendlich langen Schatten des größten Verbrechens der Menschheitsgeschichte.

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